Es ist absolut verantwortungslos und unethisch dass es in Deutschland kein Organspende-by-Default System gibt. Das würde das Problem lösen
Das wird immer wieder behauptet und teilweise auch von den Medien so dargestellt, ist aber komplett falsch. Eine solche Widerspruchslösung würde die Zahl der Organspender wenn überhaupt nur minimal erhöhen.
Eine Organspende scheitert in den seltensten Fällen an einer eindeutig festgelegten Einwilligung. Nur 22,4% der tatsächlichen (!) Organspender hatten letztes Jahr überhaupt einen Organspendeausweis. Bei allen anderen haben entweder die nächsten Angehörigen die Entscheidung übernommen oder der Spender hat sich noch zu Lebzeiten dazu geäußert.
Insgesamt gab es 2022 869 Spender*innen. Dem gegenüber stehen insgesamt 13 Fälle, in denen niemand die Entscheidung übernehmen konnte oder man den Angehörigen das Gespräch nicht zumuten wollte. Das sind die Fälle, die mit einer Widerspruchslösung noch zusätzlich gewonnen werden könnten. 882 Spenden statt 869. Natürlich kann jede zusätzliche Spende für einen Menschen lebensrettend sein. Aber dass das Problem damit gelöst wäre kann man wirklich nicht behaupten.
Die Zahl der Fälle, in denen potentielle Spender einer Organentnahme direkt widersprochen haben, ist deutlich größer. Die kann man aber nicht dazu zählen, weil man davon ausgehen muss, dass sie auch (oder gerade dann) ihren Widerspruch geäußert hätten, wenn sie sonst automatisch Organspender geworden wären.
Der tatsächliche Flaschenhals liegt ganz wo anders. Fast alle Menschen, die sterben, kommen nie als Organspender in Frage. In dem Moment wo das Herz aufhört zu schlagen, werden die Organe nicht mehr durchblutet und beginnen abzusterben. Bis die Entnahmeteams in der richtigen Klinik und die Organe entnommen sind, sind sie längst nicht mehr zu gebrauchen.
Es gibt nur eine Möglichkeit, Organspender zu werden: man muss tot sein, das Herz muss aber weiter schlagen. Das gibt es nur in einem ganz bestimmten Fall, dem Hirntod. Wenn das Gehirn z.B. durch einen Kopfverletzung, eine Hirnblutung oder einen Schlaganfall vollständig abgestorben ist, gilt ein Mensch als tot. Normalerweise würde man in dieser Situation auch sofort aufhören zu atmen und das Herz würde kurz darauf wegen Sauerstoffmangel stehen bleiben. Mit modernen intensivmedizinischen Maßnahmen (u.a. künstliche Beatmung) kann man den Körper aber noch einige Zeit weiter laufen lassen. Das geht vor allem auch deshalb, weil das Herz von ganz alleine schlägt, so lange es mit Sauerstoff versorgt wird. Es braucht dazu keine Steuerung vom Gehirn (anders als die Atmung).
Dieser Fall ist aber selten. Die meisten Menschen, die z.B. bei einem Unfall so schwer verunglücken dass das Gehirn zerstört wird, haben auch an anderen Körperstellen schwerste Verletzungen und verbluten oder sterben auf andere Weise bevor sie überhaupt in der Klinik ankommen. Und durch die moderne Neurochirurgie können immer mehr Menschen mit schwersten Hirnblutungen noch gerettet werden, die früher vielleicht als Organspender in Frage gekommen wären.
Ein tatsächliches Problem, das sicherlich vielen Organspenden im Weg steht, ist aber der enorme Arbeitsaufwand rund um die Organspende und vor allem die aufwändige Feststellung des Hirntods. Dazu müssen eine ganze Reihe von Untersuchungen nach einem sehr strengen Schema von zwei erfahrenen Ärzt*innen durchgeführt werden. Wenn da irgendwo eine bestimmte Zeitgrenze nicht eingehalten wurde oder die Untersuchungsergebnisse nicht genau übereinsteimmen, war alles umsonst. Und diese Hirntodfeststellung muss von den Kliniken selbst durchgeführt werden, die bekanntermaßen unter massivem Personalmangel leiden. Es gibt wenige, die das personell überhaupt stemmen können.
Sehr viel einfacher ist es, ohne eindeutige Hirntodfeststellung, meistens in Rücksprache mit den Angehörigen alle Geräte auszuschalten. Dann geht der Leichnam zum Bestatter und das Bett ist wieder frei. Der Patient wäre so oder so gestorben. Aber auf diese Weise können natürlich keine Organe entnommen werden.
Wenn es unabhängige Teams gäbe, die man rufen könnte wenn man einen potentiellen Spender hat, und die den Fall dann komplett übernehmen - dann wäre eine Organspende für das Klinikpersonal keine untragbare Zusatzbelastung mehr, sondern eine Entlastung. Und ich bin mir sicher, dass es dann deutlich mehr Spenden gäbe. Nur leider würde das natürlich Geld und echtes Engagement kosten. Die Widerspruchslösung ist dagegen fast umsonst und so herrlich populär - dass sie (fast) nichts bringt ist der Politik dabei egal.
Hier ist die Quelle für alle Zahlen: https://www.dso.de/SiteCollectionDocuments/DSO-Jahresbericht%202022.pdf